Sa 03.05.2025, 19.30 - 22.15 Uhr |
Staatsoper
Pique Dame
(ab 14 Jahren) Peter I. Tschaikowsky
Einführung um 18.50 Uhr
Der Außenseiter Herman liebt Lisa, die mit dem Fürsten Jelezkij verlobt ist. Herman ist leidenschaftlicher Spieler: Er will alles daran setzen, zu Geld und Ansehen zu kommen, um Lisa zu gewinnen. Als er erfährt, dass ihre Großmutter das Geheimnis dreier Karten kennt, mit denen man immer gewinnt, nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Inszenierung: Willy Decker
Bühnenbild und Kostüme: Wolfgang Gussmann
Licht: Hans Toelstede
Premiere am 25.05.2003
In russischer Sprache mit deutschen Übertiteln
„Eine russische „Carmen“, aber prachtvoller“. Mit diesem Wunsch trat der Intendant der St. Petersburger Oper Iwan Wsewoloshki an Peter I. Tschaikowsky heran. Ein Libretto existierte bereits, es stammte vom Bruder des Komponisten Modest Tschaikowsky und war nach der Novelle „Pique Dame“ von Alexander Puschkin geformt. Tschaikowsky zauderte zunächst: „Solch ein Stoff wie die „Pique Dame“ interessiert mich nicht, und ich könnte sie nur mit Ach und Krach zustande bringen“, ließ er seinem Bruder gegenüber verlauten.
Für einen Opernstoff erschien ihm die im nüchtern analytischen Erzählstil gehaltene Novelle ungeeignet. Vor allem Puschkins intellektuelle Distanz zu seinen Figuren vertrug sich nicht mit Tschaikowskys Vorliebe für sensible, gefühlsbetonte Seelenprofile: „Mich können nur solche Sujets erwärmen, in denen echte lebendige Menschen handeln, die fühlen wie ich.“
Einige Monate später hatte sich Tschaikowskys Meinung bezüglich der „Pique Dame“ grundlegend geändert. Um vor seiner Frau, die ihn wegen seiner Homosexualität zu erpressen versuchte, zu fliehen und um ungestört arbeiten zu können, war er nach Florenz gereist. Dort vertonte er des Bruders Libretto in der kurzen Zeit zwischen dem 31. Januar und 20. Juni 1890. Bei intensiver Beschäftigung mit dem Sujet hatte er die große emotionale Spannweite des Stoffes erkannt und identifizierte sich im Verlauf der Arbeit zunehmend mit dem unseligen Helden Hermann, was in zahlreichen Briefen überliefert ist: „Als ich an Hermanns Tod gelangte, überkam mich ein solches Mitleid mit meinem Helden, dass ich in Tränen ausbrach. Niemals zuvor hat mich einer meiner Charaktere so leidenschaftlich zum Weinen gebracht ... Ich erkannte, dass Hermann nicht bloß ein Vorwand war, um Musik zu komponieren, sondern ein Mensch, der lebte und Sympathie verdiente.“ Die Vermutung liegt nahe, dass Tschaikowsky in Hermanns Besessenheit ihm verwandte Charakterzüge entdecken konnte und ihn mit dieser von Ehrgeiz und Berechnung getriebenen Figur das subjektive Gefühl verband, einem übermächtigen Schicksal ausgeliefert und in der ihm umgebenden Gesellschaft isoliert zu sein.
Puschkins „Pique Dame“
Alexander Puschkins Erzählung „Pique Dame“ entstand im Jahre 1833 und erfreute sich bald nach Erscheinen großer Beliebtheit beim Lesepublikum. Mit dem deutschen Ingenieuroffizier Hermann (im Original German) hatte der Autor einen zeittypischen Charakter geformt, die Figur eines aus bürgerlichen Kreisen stammenden Intellektuellen, der seinen Aufstieg mit allen Mitteln zu erzwingen versucht. Dieser Hermann ist ein Außenseiter in der Offizierskaste „mit dem Profil Napoleons und der Seele Mephistos“ (wie sein Regimentskamerad Tomsky ihn in der Erzählung beschreibt) und fällt seinen Kameraden auf, weil er viel Zeit im Spielkasino zubringt, ohne je eine Karte anzurühren. Einmal erfährt er von Tomsky eine Geschichte, die ihn nicht mehr loslässt: Tomskys Großmutter, eine alte Gräfin, die ihre Jugend in Paris verbrachte, hatte von dem als Mystiker bekannten Grafen Saint-Germain drei unfehlbare Karten genannt bekommen, als sie ihre Spielschulden nicht begleichen konnte. Von der Idee besessen, reich zu werden, will Hermann das Geheimnis dieser drei Karten ergründen. Er gewinnt das Vertrauen und die Liebe von Lisaweta, der Gesellschafterin der Gräfin, und dringt in Abwesenheit der Alten in das Haus ein, um ihr bei ihrer Rückkehr das Kartengeheimnis zu entreißen. Die Gräfin kehrt von einem Ball zurück und entdeckt Hermann in ihrem Schlafzimmer. Als er nach vergeblichem Flehen die Pistole zieht, stirbt sie vor Entsetzen. Über Lisawetas verletzte Gefühle sieht er ungerührt hinweg. Als er am Begräbnis der Gräfin teilnimmt, scheint ihm die Tote voller Hohn zuzuzwinkern. In der folgenden Nacht erscheint ihm die Verstorbene und nennt die geheimnisvollen Karten: Drei, Sieben und As. Nun setzt Hermann an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Spielsalon auf die drei Karten und gewinnt auch zwei Mal. Am dritten Tag aber zieht er statt des von ihm gesetzten As die Pik Dame, die ihm erneut höhnisch zuzublinzeln scheint. Hermann verliert den Verstand und kommt in ein Hospital, wo er unaufhörlich „Drei, Sieben, As“ vor sich hin murmelt. Lisaweta hingegen findet ihr Glück in der Ehe mit einem braven und vermögenden Beamten.
Puschkins Erzählung spielt um 1820, also etwa in der Zeit, in der er die Novelle verfasste. Durch die neu gebildete Leserschaft des „Dritten Standes“ waren Adelsgeschichten aus der Mode gekommen. Die Novelle ist prägnant und deutlich, das Leben der darin geschilderten Menschen ist hart und hat unschöne Seiten, die der Autor nicht verhehlt. Puschkin, der die Spielleidenschaft selbst kannte und häufiger in Geldnöten steckte, zeichnete den Helden seiner Erzählung mit mitfühlendem Blick, trotz der scheinbaren Ironie und Kühle seiner Erzählweise.
Von der Novelle zur Oper
Tschaikowsky lebte in einer anderen Zeit als Puschkin. Die Industrialisierung hatte nicht nur den Fortschritt, sondern auch für viele Menschen Armut und Arbeitslosigkeit mit sich gebracht. Die Petersburger Theaterleitung schlug vor, die Handlung um einige Jahrzehnte zurückzuverlegen, nämlich in die Regierungszeit Katharina der Großen, die als Goldenes Zeitalter der Kunst und Kultur in Russland verklärt wurde.
Puschkins Novelle wurde von den Brüdern Tschaikowsky mit erheblichen Veränderungen bedacht. Szenen und Personen wurden hinzuerfunden oder weggelassen. Man schuf neue, romantisch anmutende Spielorte, die wiederum Einfluss auf die Handlung nahmen. Den Theaterbesuchern des 19. Jahrhunderts sollte trotz aller düsteren Dramatik des Geschehens ein angenehmer Abend beschert werden. „Pique Dame“ ist die opernhafteste unter Tschaikowskys Opern. Dem Wunsch nach Verlegung der Handlung in das ausgehende 18. Jahrhundert hat der Komponist auch bei der musikalischen Umsetzung geschickt entsprochen. Für die Ära der Klassik und des Rokoko hegte er eine besondere Vorliebe, was auch einige seiner Kammermusikwerke belegen. Die historischen Stilelemente dienten in der „Pique Dame“ als musikalische Kulisse: Mit den Chören in der Ballszene und dem aus Grétrys „Richard Löwenherz“ stammenden Lied, das die alte Gräfin kurz vor ihrem Tod singt, wird eine längst vergangene Welt wiederbelebt. „Ich fühle mich, als würde ich im 18. Jahrhundert leben und als wäre nach Mozart nichts und niemand mehr da.“
Die musikalischen Entlehnungen, die Tschaikowsky einsetzte, reichen von Mozart über die italienische Tradition bis hin zu Bizet. So gelingen ihm die Milieuschilderungen kontrastreich und stimmungsvoll: der frühlingshafte Sommergarten in St. Petersburg, der Maskenball, auf dem die Menschen durch Rokokomusik unterhalten werden, die Stimmung der aufgeheizten Spielkasinos, die Einsamkeit der kalten Winternacht - diese Bilder führen direkt vom Gesellschaftsbild zur Individualtragödie. Das jähe Umschlagen der Stimmungen und die Gegenüberstellungen von lyrischen Elementen und leidenschaftlichen Gefühlsausbrüchen ist besonders kennzeichnend für die russische Oper. Die in „Pique Dame“ am häufigsten gebrauchten Worte sind „grauenvoll“ und „mir graut es“, schreibt die Musikwissenschaftlerin Sigrid Neef in einem Essay über Tschaikowkys Meisterwerk: „Als typisch russisch erweist sich hier ein die Seele bedrängendes Gefühl der Angst, hervorgerufen durch die für das zaristische Russland typische, auf Zwang und Willkür beruhende, halb asiatische Gesellschaftsordnung“. Tatsächlich herrscht in der „Pique Dame“ von Anfang an eine Spannung wie vor einem drohenden Gewitter, es wird eine Atmosphäre erzeugt, die von Zerfall bedroht scheint, in der jede Ordnung verloren geht und das dunkle Chaos kaum nachvollziehbarer Leidenschaften herrscht.
Geld oder Liebe
Was der Komponist bei der literarischen Vorlage am meisten vermisst haben dürfte, war eine echte Liebesgeschichte, durch die sich seine musikalische Erfindungsgabe besonders hätte entfalten können. Bei Puschkin ist Hermann beziehungs- und liebesunfähig. Er umwirbt Lisaweta in trügerischer Absicht, um sich so Zutritt zum Haus der Gräfin zu verschaffen, da es sein ausschließliches Ziel ist, das Kartengeheimnis zu lüften. Diese Sicht der Dinge erschien Tschaikowsky für die Oper allzu profan. Die beiden Brüder konstruierten eine verhängnisvolle Liebesgeschichte zwischen dem mittellosen Offizier Hermann und der jungen adeligen Lisa. Letztere ist in der Oper keine armselige Dienstbotin, sondern Enkelin der steinreichen Gräfin und verlobt mit dem mächtigen Fürsten Jeletzky, der in Puschkins Erzählung kein Vorbild hat. Da Lisa aus adeligen Kreisen stammt, ist sie in eine fast unerreichbare Distanz zu Hermanns bürgerlicher Welt gerückt und liefert das Motiv für dessen obsessive Liebesgefühle. Um sie für sich zu gewinnen, strebt er nach Reichtum, dabei wird die Liebe von der Leidenschaft zum Spiel verdrängt. Das Glücksspiel wird in der Opernhandlung im buchstäblichen Sinn des Wortes zu einem Spiel um das Glück.
Die veränderte Definition der Figur Hermanns bedingte eine ebensolche Lisas, die mit Puschkins zu kurz gekommenem Mauerblümchen nichts mehr zu tun hat. Lisa gerät in eine quälende seelische Notsituation, da sie vor ihrer Begegnung mit Hermann die Werbung des Fürsten Jeletzky erhört hat. Am Abend ihres Verlobungstages gibt sie dem Drängen des heimlich Geliebten nach, eine verhängnisvolle Entscheidung, aus der es kein Zurück gibt.
Wie Tschaikowsky die Liebesgeschichte ins Zentrum der Oper rückt, hat auch die Schlüsselszene, die Erzählung vom Kartengeheimnis der alten Gräfin, eine veränderte Funktion. Bei Puschkin ist sie am Beginn der Erzählung auslösendes Moment der gesamten Geschichte. Tschaikowsky fügt sie ein, nachdem Hermann in leidenschaftlicher Liebe zu Lisa entbrannt ist. Die Oper endet, wie eine Oper des 19. Jahrhunderts oft endet: Lisa stürzt sich in die Fluten des Flusses Newa und Hermann richtet die Waffe gegen sich selbst.